Die Welt in Aufruhr

Israels Partner warnen vor einem Gegenschlag und legen nahe, die Abwehr der iranischen Attacke als Sieg zu betrachten. Teheran dagegen sieht sich als Gewinner. Ein regionaler Krieg droht weiterhin – das wäre auch für Deutschland gefährlich.

Ausgabe vom 16.04.2024
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Von Can Mereyund Markus Decker


Im UN-Sicherheitsrat: Irans Botschafter Amir Saeid Iravani (links) und Israels Vertreter Gilad Erdan. Letzterer zeigt ein Video von Raketen über dem Felsendom in Jerusalem. Fotos: Yuki Wamura/dpa
14.04.2024, USA, New York: Israels UN-Botschafter Gilad Erdan zeigt ein Video von iranischen Raketen, die über die Al-Aksa-Moschee fliegen, während er vor dem Sicherheitsrat der Vereinten Nationen bei einer Dringlichkeitssitzung im UN-Hauptquartier spricht. Foto: Yuki Iwamura/FR171758 AP/AP +++ dpa-Bildfunk +++Yuki Iwamura
Gilt als irannah: Eine Razzia in der Blauen Moschee des Islamischen Zen­trums Hamburg (IZH) im vergangenen November.Foto: Daniel Bockwoldt/dpa

Berlin. Gleich zum zweiten Mal in weniger als 24 Stunden kam das Kriegskabinett in Israel am Montag zusammen. Es waren Stunden, in de­nen die Welt davor zitterte, ob sich der Krieg im Nahen Osten zu einem Flächenbrand mit Folgen weit über die Region hinaus ausweiten würde. Ein Vergeltungsschlag Israels ist nach dem massiven iranischen Luftangriff zunächst zwar ausgeblieben, und international mehren sich die Rufe nach einer zurückhaltenden Reaktion, gebannt ist die Gefahr ei­ner Eskalation damit aber nicht. UN-Generalsekretär António Guterres warnt: „Der Nahe Osten steht am Rande des Abgrunds.“

Israels Regierungschef Benjamin Netanjahu betonte laut Medienberichten bei einem privaten Treffen mit Ministern seiner Likud-Partei, auf den Raketenangriff des Irans müsse eine kluge Reaktion folgen. Teheran solle nervös warten müssen, wann die Gegenreaktion erfolge, so wie es Israel vor dem Angriff am späten Samstagabend ergangen sei.

Der Sender berichtete unter Berufung auf einen hochrangigen Beamten, Israel habe zugesichert, die USA vor einem Gegenschlag zu informieren. Damit solle US-Truppen in der Region Zeit gegeben werden, sich auf iranische Vergeltungsmaßnahmen vorzubereiten.

Israels Regierungssprecher David Mencer versicherte in einer Schalte mit Reportern: „Wir sind auf jedes Szenario vorbereitet, sowohl defensiv als auch offensiv.“ Er warf den „Tyrannen von Teheran“ neben den Luftangriffen auch vor, hinter dem Überfall der Terrororganisation Hamas auf Israel am 7. Oktober 2023 mit rund 1200 Toten gesteckt zu haben.

Die Spannungen im Nahen Osten überschatteten weiterhin den Besuch von Bundeskanzler Olaf Scholz im fernen China. Der SPD-Politiker sagte am Montag in Shanghai: „Alle sind sich einig darüber, dass die Art und Weise, wie es Israel gelungen ist, diesen Angriff abzufangen, wirklich beeindruckend gewesen ist.“ Daher rate er Israel, selbst zur Deeskalation beizutragen.“

Ähnlich argumentieren auch die US-Regierung und all diejenigen, die Israel nun davor warnen, mit einem Vergeltungsschlag gegen den Iran die Spirale der Gewalt weiterzudrehen: Dass nach Angaben der israelischen Streitkräfte mithilfe der USA, Großbritanniens und anderer Partner „99 Prozent“ der rund 320 Drohnen, Marschflugkörper und ballistischen Raketen abgefangen wurden, sei bereits ein durchschlagender Erfolg für Israel – und eine Niederlage für den Iran. So sagte etwa der britische Außenminister David Cameron am Montag dem Sender ­Times Radio: „Das Beste, was man im Fall Israels tun kann, ist, anzuerkennen, dass dies für den Iran ein Misserfolg war.“

Ein Misserfolg womöglich nicht nur aus militärischer Sicht. Der erste direkte Angriff auf den Erzfeind hat die internationale Solidarität mit Israel wiederaufleben lassen, die brüchig geworden war. Die Kritik am brutalen Vorgehen Israels im Gazastreifen ist in den Hintergrund gerückt – zumindest vorübergehend. Regierungssprecher Mencer betonte, an den Kriegszielen im Gazastreifen habe sich nichts geändert: „Unsere 133 Geiseln nach Hause zu holen, die Hamas zu zerstören und sicherzustellen, dass Gaza nie wieder zu einer Bedrohung für uns wird.“

Drohung an die USA

Auch wenn kaum Raketen Israel trafen, strotzte die iranische Vertretung bei den Vereinten Nationen dennoch vor Selbstbewusstsein. „Das israelische Regime, das von seinen Unterstützern ständig verhätschelt wurde, war wie ein verwöhntes Kind in der Schule, wo seine Anomalien lange Zeit un­kon­trol­liert geblieben waren“, schrieb die Mission auf der Plattform X (vormals Twitter). „Es musste dis­zi­pli­niert werden, und die Dis­zi­plin wurde tatsächlich erzwungen!“

Teheran argumentiert, der Angriff in der Nacht zu Sonntag sei eine Reaktion auf den israelischen Beschuss des iranischen Konsulats in Damaskus gewesen, bei dem zu Monatsbeginn hochrangige Offiziere getötet worden waren. „Die Angelegenheit kann als abgeschlossen betrachtet werden“, teilte Irans Vertretung bei den UN nach dem Luftangriff mit. „Sollte das israelische Regime jedoch einen weiteren Fehler begehen, wird die Antwort des Iran wesentlich härter ausfallen. Es ist ein Konflikt zwischen dem Iran und dem israelischen Schurken-Regime, aus dem sich die USA heraushalten müssen!“

Der Iran-Direktor der Denk­fa­brik International Crisis Group, Ali Vaez, konstatierte im Journal „Foreign Affairs“, sowohl Israel als auch der Iran rasselten weiter mit den Säbeln. „Der Schlagabtausch zwischen den beiden Staaten könnte weiter eskalieren und zu einem sich ausweitenden Krieg führen, der die Vereinigten Staaten einbezieht und die gesamte Region erfasst“, warnte Vaez. „Der Nahe Osten ist am ­13. ­April nicht explodiert, aber es besteht immer noch die Gefahr eines größeren Konflikts, bei dem es keine Gewinner geben würde.“

US-Präsident Joe Biden ist besonders daran gelegen, eine weitere Eskalation in einem Konflikt zu vermeiden, in den die Vereinigten Staaten womöglich verwickelt werden könnten. Nach Darstellung aus Washington hielt er den israelischen Ministerpräsidenten Benjamin Netanjahu dazu an, einen möglichen Vergeltungsschlag gegen den Iran sorgfältig abzuwägen. Die „Washington Post“ zitierte ungenannte US-Regierungsvertreter, wonach man Israel bei Angriffen aus dem Iran weiterhin schützen, sich aber nicht an einem Gegenschlag beteiligen würde.

Der Demokrat Biden steht unter dem Druck seines re­pu­bli­ka­ni­schen Herausforderers Donald Trump bei der Präsidentenwahl im November. Trump hatte während seiner Präsidentschaft in den Jahren 2017 bis 2021 einen deutlich härteren Kurs gegen den Iran gefahren als sein Amtsnachfolger. Nach dem iranischen Angriff auf Israel schrieb Trump auf seinem sozialen Netzwerk Truth So­cial: „Das hätte nie passieren dürfen – das wäre NIE passiert, wenn ich Präsident wäre!“

Der israelische Regierungssprecher Mencer forderte: „Die internationale Gemeinschaft muss handeln, um den Iran zu stoppen und ihn daran zu hindern, seine Terroroperationen fortzusetzen, die Israel und die Region gefährden. Stellen Sie sich vor, der Iran hätte Atomwaffen. Deshalb dürfen die Tyrannen des Iran niemals in den Besitz solcher Waffen gelangen.“

Außenminister Israel Katz verlangte in Gesprächen mit seinem britischen und französischen Amtskollegen unter anderem, die iranischen Revolutionsgarden auf die Liste der Terrororganisationen zu setzen. Für diesen Dienstag hat der EU-Außenbeauftragte Josep Borrell ein Sondertreffen der EU-Außenminister anberaumt, die sich per Video mit ihm zusammenschalten. Unter Trump hatten die USA die Revolutionsgarden bereits zur Terrororganisation erklärt.

Wachsender Antisemitismus

Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) warnte nach dem Angriff des Iran auf Israel vor etwaigen Konsequenzen für Deutschland. „Wir wissen, wie sich Eskalationen im Nahen Osten auch in Deutschland auswirken können“, sagte sie dem RedaktionsNetzwerk Deutschland (RND). „Seit den Terrorangriffen der Hamas auf Israel am 7. Oktober 2023 und dem folgenden Gazakrieg gibt es einen drastischen Anstieg von antisemitischen Straftaten.“ Die SPD-Politikerin betonte deshalb: „Die Spirale, dass Eskalationen im Nahen Osten zu noch mehr widerwärtigem Judenhass bei uns führen, müssen wir durchbrechen.“ Sie sagte weiter, die Sicherheitsbehörden seien sehr wachsam und beobachteten genau, „ob die aktuelle Eskalation durch das iranische Regime Auswirkungen auf die Sicherheitslage in Deutschland hat“. Der Schutz von israelischen und jüdischen Einrichtungen habe höchste Priorität.

In diesem Zusammenhang dankte Faeser den zuständigen Polizeikräften der Länder. Denn seit dem 7. Oktober seien die Schutzmaßnahmen noch weiter hochgefahren worden. Die Sicherheitsbehörden in Bund und Ländern tauschten sich eng aus, um die Bedrohungslage laufend zu bewerten. Dies gelte ebenso für internationale Partner, insbesondere für Frankreich. Ähnlich hatte sich zuvor der Antisemitismusbeauftragte der Bundesregierung, Felix Klein, geäußert. Er rief gegenüber dem RND dazu auf, „dass der fatale Mechanismus zwischen erhöhten Spannungen im Nahen Osten und antisemitischer Hetze bei uns endlich einmal durchbrochen wird. Das wäre gut für die politische Kultur in Deutschland.“

Tatsächlich war die Zahl antisemitischer Straftaten nach dem 7. Oktober regelrecht explodiert. Im Jahr 2023 wurden nach jüngsten Regierungsangaben 5154 antisemitische sowie 1464 islamfeindliche Straftaten gemeldet. Dabei wurden 56 Personen bei antisemitischen und 53 bei islamfeindlichen Straftaten verletzt. Im ersten Quartal 2024 waren es 765 antisemitische und 137 islamfeindliche Straftaten – mit sieben beziehungsweise neun Verletzten.

Gefahr durch Emotionalisierung

Allerdings ergriff die Regierung auch Gegenmaßnahmen. So verhängte Faeser ein Betätigungsverbot für die Hamas und das einschlägige Netzwerk Samidoun. Am Freitag löste die Polizei einen „Palästina-Kongress“ auf. Bei einer Großrazzia Mitte November hatte die Polizei Gebäude in sieben Bundesländern durchsucht, die dem Verein Islamisches Zen­trum Hamburg (IZH) zugerechnet werden, der seinerseits als irannah und ex­tre­mis­tisch gilt.

Der stellvertretende Vorsitzende der Grünen-Bundestagsfraktion, Konstantin von Notz, sagte nun der Tageszeitung „Die Welt“: „Das IZH hat es über Jahre versäumt, sich von den Ex­tre­mis­ten klar zu distanzieren.“ Er erwarte daher, „dass jetzt alle rechtsstaatlichen Mittel umgehend ausgeschöpft werden, um das IZH endlich zu verbieten und jegliche Aktivitäten zu unterbinden“.

Aus Sicherheitskreisen verlautete am Montag, nach aktuellen Erkenntnissen lägen keine konkreten Anhaltspunkte für eine unmittelbare Bedrohung israelischer oder jüdischer Einrichtungen in Deutschland oder direkte Bezüge vor, die zu einer Änderung der bestehenden Gefährdungsbewertung führen würden. Grundsätzlich sei die Gefährdungslage in Deutschland aber eng mit der Entwicklung der Situation im Nahen Osten verknüpft. Eine Emotionalisierung der Lage, insbesondere bei israelfeindlichen Kräften, sei denkbar. Dies gelte besonders vor dem Hintergrund sich selbst radikalisierender Einzeltäter.