Gerangel um EU-Spitzenjobs

EVP könnte drei der vier Topposten besetzen – Sozialdemokraten sollen zurückstecken

Ausgabe vom 19.06.2024
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Von Sven Christian Schulz


„Es gibt heute Nacht keine Einigung“: Der Präsident des Europäischen Rates, ­Charles Michel, spricht nach dem Spitzentreffen mit Journalisten. Foto: Omar Havana/ap

Brüssel. Bis tief in die Nacht hatten die Staats- und Regierungschefs der 27 EU-Staaten in Brüssel über ihren Tellern gebrütet und bei Seelachsfilet mit Babyartischocken und mediterranem Gemüse die Verteilung der EU-Spitzenposten diskutiert. Doch auch als schließlich französischer Kuchen mit Früchten gereicht wurde, war noch keine Einigung in Sicht.

Um Mitternacht trat schließlich EU-Ratspräsident Charles Michel vor die Presse und versuchte, gute Miene zum bösen Spiel zu machen. „Es gibt heute Nacht keine Einigung“, sagte Michel, aber dies sei heute auch gar nicht das Ziel gewesen. Schließlich diene der informelle Gipfel nur der Vorbereitung des offiziellen EU-Gipfels in der kommenden Woche.

Dabei hatten sich viele Staats- und Regierungschefs vor den sechsstündigen Verhandlungen noch zuversichtlich gezeigt, dass man nun „schnell und zügig“ (Olaf Scholz) über die Besetzung der EU-Spitzenposten entscheiden werde. „Am Anfang war die Stimmung gut, es gab viel Gelächter, aber dann wurden die Verhandlungen immer zäher“, sagte ein EU-Diplomat dem RedaktionsNetzwerk Deutschland (RND). Die Hoffnung auf eine schnelle Einigung rückte in weite Ferne.

Als Favoriten für den Posten der EU-Kommissionspräsidentin gilt Ursula von der Leyen und für das Amt des Ratspräsidenten der portugiesische Ex-Regierungschef Antonio Costa, und Estlands Premierministerin Kaja Kallas soll EU-Außenbeauftragte werden.

Streitpunkt beim Gipfel war jedoch nicht die Frage, wer welchen Spitzenposten erhält. Vielmehr stritten die Politikerinnen und Politiker darüber, wie lange der Sozialdemokrat Costa Ratspräsident sein darf. Denn aus der konservativen Europäischen Volkspartei (EVP), die bei der Europawahl stärkste Kraft geworden war und nun 14 Sitze mehr im Parlament hat, kamen überraschend neue Forderungen. Costa solle nur eine halbe Amtszeit Ratspräsident sein, dann müsse ein EVP-Kandidat übernehmen, hieß es aus dem Umfeld des kroatischen Premierministers Andrej Plenkovic. Dabei hatte EVP-Parteichef Manfred Weber vor dem Gipfel noch Zugeständnisse angedeutet. „Uns ist bewusst, dass wir einen Kompromiss mit den anderen Parteien finden müssen“, sagte er dem RND und einigen anderen Medien.

„Die EVP will den EU-Gipfel zum Zahltag machen“, sagte ein EU-Diplomat. Als stärkste Kraft nach der Europawahl seien die EVP-Verhandlungsführer Donald Tusk, Ministerpräsident Polens, und Kyriakos Mitsotakis, Ministerpräsident Griechenlands, mit Maximalforderungen in den Rat gekommen. „Die EVP will in den Verhandlungen ihre politische Macht ausspielen“, so ein anderer Diplomat.

Eigentlich wird der Ratspräsident nach zweieinhalb Jahren für eine weitere Mandatszeit von zweieinhalb Jahren im Amt bestätigt. Das wird nun von EVP-Politikern infrage gestellt. Die Sozialdemokraten könnten demnach keine zweite Amtszeit erhalten. Hinzu kommt: Einige in der EVP würden auch gern die Präsidentin des Europäischen Parlaments für die gesamten fünf Jahre stellen. Eigentlich gibt es auch hier nach zweieinhalb Jahren einen Wechsel zwischen den beiden größten Fraktionen. Die Sozialdemokraten hätten erneut das Nachsehen.

Ob es dazu kommt, ist aber ungewiss. Trotzdem waren sozialdemokratische Regierungschefs wie Olaf Scholz und sein spanischer Amtskollege Pedro Sánchez verärgert über die Entwicklung. Dass sie sich auf die Forderung einlassen, halten Diplomaten für äußerst unwahrscheinlich. Schließlich haben die Sozialdemokraten nur drei Sitze im Parlament verloren.

Der kroatische Premier Plenkovic soll die Idee einer geteilten Präsidentschaft im Rat ins Spiel gebracht haben. Auch er gehört der EVP-Familie an, und manche glauben, dass er selbst Ambitionen auf das Amt des Präsidenten haben könnte. Womöglich will die EVP mit diesen Forderungen aber auch nur verhindern, dass Sozialdemokraten und Liberale einen hohen Preis dafür verlangen, dass sie EVP-Kandidatin von der Leyen erneut an die Kommissionsspitze wählen.

„Die Dinge müssen noch etwas köcheln“, sagte der französische Präsident Emmanuel Macron nach dem Treffen, „aber wir sind nicht weit von einer Einigung entfernt.“